Vermutlich gibt es im Leben der meisten Menschen einige Personen, von denen man viel gelernt hat und die einen geprägt haben, ganz direkt oder in der Auseinandersetzung oder beides. Für mich war meine Professorin Vivienne Westwood, bei der ich an der UdK Berlin vier Jahre lang studiert habe, eine der Personen, ohne die ich heute nicht die wäre, die ich bin, und der ich unendlich dankbar bin für alles, was ich von ihr (und oft gegen sie) gelernt habe.
Für mich war Vivienne kein Idol, aber durchaus Heldin, definitiv eine Inspiration, und gleichzeitig meine furchtbarste und – mit Abstand! – großartigste Lehrerin. Ich habe mich immer gefragt, was sie damals, am ersten Tag, eigentlich in mir gesehen hat, und warum sie mich in ihre kleine Klasse aufgenommen hat. Es war eine Ehre und ein Privileg.
Mein Verhältnis zu Vivienne war nie einfach. Ich bin nicht gut darin, einfach nur Anweisungen zu folgen, und Vivienne war nicht daran gewöhnt, dass jemand seine Fehler selber machen muss, um daraus zu lernen, und dass aus ebendiesen Fehlern aber oft wunderbare Dinge entstehen. Irgendwann hat sie angefangen, meine Arbeitsweise zu respektieren, mich machen zu lassen und dabei zu unterstützen, was für mich das größte Geschenk war.
Ich habe bei und von Vivienne Sehen bzw. genauer hinzusehen gelernt, immer weiterzulernen und neugierig zu bleiben, Geschichten in Details zu erzählen, die Selbstdisziplin einer Ballettänzerin, Schnittkonstruktion (obwohl ich eigentlich immer nur zeichnen wollte, war die technische Seite von Kleidung dann doch viel spannender…), dass historische Kleidung sich wie Zeitreisen anfühlen kann, dass ich die vollständige Lösung von Problemen oft deutlich spannender finde, als “einfach eine Schleife draufzusetzen”, diese unglaubliche Schatztruhe historischer Schnitte, Gemälde und Bücher zu schätzen und als Inspiration zu nutzen, und möglicherweise stammt meine seltsame Neigung, Dinge (neu) zu erfinden, auch daher, oder wurde zumindest sehr unterstützt. Wahrscheinlich wäre ich ohne Vivienne heute deutlich weniger entschieden ich selbst, und möglicherweise wäre ich nicht ganz so freundlich :)
Auch wenn ich heute meistens in anderen Bereichen arbeite, ist all das (und vieles mehr) immer noch da.
Am meisten beeinflusst hat mich vermutlich, dass Vivienne mich gezwungen hat, meine Kleider selbst anzuziehen (bis dahin habe ich immer an Büste und Models gearbeitet, weil ich dachte, ich würde da sowieso nicht reinpassen), und wie ich daraus gelernt habe, mehr danach zu schauen, wie man sich in Kleidern fühlt als wie man darin aussieht, und dass Schönheit eigentlich mehr Gefühl als Look ist. Als Illustratorin arbeite ich ähnlich, und fühle mich in alle Details.
Mir gefällt der Gedanke, dass all das, was Vivienne uns gelehrt hat, in und durch uns weiterlebt.
Auf die Frage nach einem alten Freund hat Vivienne mal geantwortet, dass man keinen Kontakt haben haben muss, um zu schätzen, dass es denjenigen gibt, und dass eine Welt ohne diese Person sei wie eine Welt ohne Brasilien.
Gestern hat meine eigene kleine Welt ein Brasilien verloren.
Zur Abbildung: Leider komme ich grade nicht an meine alten Fotos und fände es seltsam, hier einfach irgendein online gefundenes CC-Foto von Vivienne zu zeigen. Während der Arbeit an meiner auf historischer Frauenjagdkleidung basierenden Diplomkollektion “Jagdfieber” bin ich über den jagdlichen Brauch des Bruchs gestoßen, bei dem das Wild durch einen Tannenzweig geehrt wird, und erinnere mich, dass Vivienne dieses Detail sehr gefallen hat.
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